Ein Abstecher in die Saalgasse

Frankfurts vergessener Nachbar der Neuen Altstadt

„Hier geht’s doch gar nicht in die Neue Altstadt!“ – Diesen Satz höre ich bei meinen Führungen regelmäßig, wenn ich nach dem Historischen Museum und der Alten Nikolaikirche nicht geradeaus, sondern rechts in die Saalgasse abbiege. Und jedes Mal muss ich ein bisschen schmunzeln. Denn ja, streng genommen führt der Weg nicht in die Neue Altstadt, aber er führt zu einem wesentlich älteren, aber nicht weniger spannenden und zugleich meist übersehenen Projekt – der Saalgasse.

Nach dem Krieg war Frankfurt eine Stadt der Baustellen und Brüche. Wer sich alte Fotos anschaut, erkennt kaum noch das mittelalterliche Gassengewirr, das einst den Römerberg umgab. Zwischen Schutt und Neubeginn entschied man sich in den 1950ern und 60ern für den funktionalen Wiederaufbau – Hauptsache, die Menschen hatten wieder ein Dach über dem Kopf. An den Charme der alten Altstadt wagte man sich erst Jahrzehnte später wieder heran.

Erst Ende der 1970er Jahre kam Bewegung in die Sache. Der große Parkplatz am Römerberg, der viele Jahre lang einfach nur eine graue Fläche mitten im Herzen der Stadt war, sollte verschwinden. Ein Architekturwettbewerb wurde ausgeschrieben, bei dem sich Architekt:innen mit ihrem Konzept zur Rekonstruktion der Fachwerk-Häuserzeile am östlichen Römerberg bewerben konnten: Wer kann den Geist der alten Fachwerkzeile am besten wiederbeleben?

Die Stadt bekam so viele gute Entwürfe, dass sie kurzerhand beschloss, auch die Saalgasse als Experimentierfeld freizugeben. Zwölf Architektinnen und Architekten erhielten den Auftrag, hier 14 Häuser zu entwerfen – jedes auf einer winzigen Parzelle von nur rund 7,5 Metern Breite, 10 Metern Tiefe und vier Stockwerken Höhe. Die Vorgabe: Altstadtdimensionen, aber mit moderner Sprache. Das Ergebnis: eine postmoderne Wundertüte aus Farben, Formen und Ideen, die bis heute erstaunt und begeistert.

Und so gleicht kein Haus in der Saalgasse dem anderen.

Heinrici & Geiger – (Saalgasse 28) Die beiden waren schon für den „Schwarzen Stern“ zuständig, das historische Eckgebäude, das viele nur vom Vorbeigehen kennen. Kein Wunder also, dass sie auch die angrenzenden Eckhäuser gestalteten. Ihre Häuser wirken vertraut und gleichzeitig selbstbewusst, ein eleganter Übergang von Alt zu Neu.

Fischer, Glaser & Kretschmer – (Saalgasse 26) Hier begegnet einem ein wahres Farb- und Materialfeuerwerk. Asymmetrische Erker brechen die sonst sehr gleichförmige Rasterfassade auf und verleihen dem Haus Lebendigkeit. Ich erzähle meinen Gästen gern, dass man hier fast das Gefühl hat, das Gebäude „atmet“.

Jourdan, Müller & Albrecht – (Saalgasse 24) Die Form ist klar, schlicht und funktional, fast schon minimalistischer Natur. Die dekorlosen Wandflächen und die geradlinige Anordnung erinnern an neue Sachlichkeit, Art Déco und Expressionismus – ein ruhiger Gegenpol zu den farbenfrohen Nachbarn.

Adolfo Natalini – (Saalgasse 22) An der östlichen Ecke steht ein Wohnhaus mit einer monumentalen Tonnensäule. Sie markiert nicht nur die Sonderstellung des Eckhauses, sondern signalisiert den Übergang zur Schirn – fast wie ein stiller Türsteher zwischen zwei städtischen Welten.

Charles Moore – (Saalgasse 18) Wer genauer hinsieht, entdeckt in den Sprossenfenstern feine Jugendstil-Anklänge. Moore ging bewusst eigene Wege, auch wenn die städtebaulichen Vorgaben streng gewesen wären – das Haus wirkt dadurch verspielt, fast wie ein kleines Kunstwerk zwischen den strengeren Nachbarn.

Berghof, Landes & Rang – (Hausnummer 16) Dieses Haus ist ein echter Augenschmaus: Eine Allegorie eines kopfüber stehenden Fachwerkhauses, verziert mit sternenförmigen Öffnungen. Es strahlt eine verspielte Leichtigkeit aus, die in der sonst kompakten Gasse sofort ins Auge fällt.

Unglaub & Horvath – (Saalgasse 14) Glatt abgeschnittener Giebel, breiter Eingang im Erdgeschoss – eine subtile Hommage an die Altstadtbauten, die hier im Krieg zerstört wurden. Man spürt die Geschichte, ohne dass sie einem ins Gesicht springt.

Eisele & Fritz – (Saalgasse 12) Die Fachwerkskonstruktionen der Vergangenheit werden hier in modernen Materialien interpretiert: Viergeschossiger Wintergarten, ein filigraner Stahlmast als Giebel – eine clevere Paraphrase der alten Bauten, die gleichzeitig erstaunlich modern wirkt.

Christoph Mäckler – (Saalgasse 10) Eine torartige Eingangssituation und große Schaufenster laden den Passanten ein, hineinzuschauen. So wird die Ladenzone des Erdgeschosses bewusst in Szene gesetzt – eine Reminiszenz an die früheren Scharnhäuser.

Von Gerkan, Marg & Partner – (Saalgasse 8) Ihr Haus ist bewusst zurückhaltend gestaltet. Die reduzierte Materialwahl und ausgewogene Farbgebung erzeugen eine ruhige, harmonische Wirkung – ein optisches Durchatmen mitten in der lebhaften Gasse.

Herms – (Saalgasse 6) Hier trifft Gotik auf italienischen Manierismus und barocke Kirchenarchitektur. Das Haus wirkt wie ein Sammelsurium unterschiedlichster Stilreferenzen, und gerade das macht seinen Charme aus.

Bangert, Jansen, Scholz & Schultes – (Römerberg 8-10) Das dreiteilige Eckhaus bildet den Abschluss der Saalgasse. Größe, Maßstab und Farbigkeit spielen auf den Kopfbau des langen Galerietrakts der Schirn an – ein eleganter Schlusspunkt, der die Gasse nach außen abrundet.

Wer die Saalgasse entlangspaziert, entdeckt ein Stück Frankfurt, das sich seiner selbst bewusst ist: nicht nostalgisch, aber auch nicht kaltmodern. Sie ist ein architektonisches Gespräch zwischen Vergangenheit und Zukunft – und genau deshalb liebe ich es, meine Gäste hierher zu führen.

Wenn man dann am Ende wieder Richtung Mainufer blickt, wo sich die 60er-Jahre-Bauten mit ihren klaren Linien aneinanderreihen, merkt man, wie klug diese Gasse eigentlich gedacht war: Sie verbindet Epochen, Stile und Ideen – auf wenigen Metern.

Und jedes Mal, wenn jemand am Ende sagt: „Jetzt verstehe ich, warum Sie hier abbiegen, Dimitri“, weiß ich, dass es sich gelohnt hat.

Euer Dimitri
Stadtführer in Frankfurt